Wenn die Sonne hinter den Mauern von Dinkelsbühl versank und die letzten Schritte über das Kopfsteinpflaster verklangen, begann für den Nachtwächter am Wörnitztor die Stunde seiner besonderen Pflicht. Sein Auftrag war nicht nur, die Tore zu sichern und die Mauer zu überwachen, sondern auch ein Ritual zu vollziehen, das seit Jahrhunderten Teil der nächtlichen Ordnung war – eine Mischung aus Pflichtprüfung, Warnsignal und geheimnisvollem Bannspruch.
Es begann stets mit einem festen Rütteln am schweren Tor, gefolgt von einem lauten Ruf nach oben zum Wachmann im Turm. Dieser kurze, knappe Austausch diente der Kontrolle: War der Turmwächter wach und aufmerksam, wusste man, dass die Sicherheit der Stadt gewährleistet war. Doch danach folgte der Teil, der den meisten Bürgern ein kleines Schaudern über den Rücken jagte. Der Nachtwächter stieg die steinerne Treppe zur Mauerkrone hinauf, blickte hinaus in die dunkle Wörnitz-Vorstadt – und stieß seinen Ruf in die Nacht hinaus.
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Dieser Schrei war mehr als ein einfaches Signal. Die Überlieferung besagt, er sollte nicht nur menschliche Ohren erreichen, sondern auch jene Mächte, die man in der Finsternis vermutete. Man glaubte, dass böse Geister, ruhelose Seelen oder gar Unglück bringende Dämonen in der Nacht umherstreiften. Der Ruf, kraftvoll und weit hallend, sollte diese unsichtbaren Gefahren vertreiben und die Stadt vor Unheil bewahren. Manche nannten es Aberglaube, andere ein notwendiges Schutzritual – doch niemand stellte es in Frage.
Über Generationen hinweg wurde diese nächtliche Zeremonie zur unerschütterlichen Gewohnheit. Die Bewohner fühlten sich sicherer, wenn sie in der Ferne den markanten Ruf hörten, der durch die stillen Gassen hallte. Er war das Zeichen, dass über sie gewacht wurde, dass jemand zwischen der friedlichen Stadt und der dunklen Welt außerhalb stand.
Heute ist der geheimnisvolle Ruf verklungen, doch seine Legende lebt weiter. Wer in einer klaren Nacht am Wörnitztor steht, mag fast meinen, in den Wind hinein noch einen fernen Hall zu vernehmen – das Echo einer Stimme, die einst mit jedem Atemzug die Stadt beschützte.
